Elina steht schon wieder mit dem Heft vorne am Pult: “Ich check das nicht!” sagt sie und zeigt auf die erste Aufgabe. Die haben wir doch gerade ausführlich im Sitzkreis mit dem Dienes-Material gelegt. Ich werfe einen Blick auf den kleinen weißen Tisch: Das Material liegt noch dort. Ein Blick in die Klasse: Drei Kinder melden sich und brauchen mich.
“Weißt du was? Diese Aufgabe liegt noch auf dem Tisch. Schau dir das doch nochmal an, dann findest du das Ergebnis selber heraus”, sage ich zu Elina.
Sie setzt sich an den Tisch und beginnt mit dem Material zu hantieren, während ich mich um die anderen Kinder in der Klasse kümmere. Jemand muss noch auf’s Klo, ein Kind bekommt spontan Nasenbluten und dann klingelt es zur großen Pause.
Ich will gerade ins Lehrerzimmer, um mir den wohlverdienten Kaffee zu kochen, als mein Blick auf Elinas Heft fällt, welches sie neben dem Material auf dem Tisch liegen gelassen hat. Die Aufgabe ist noch immer nicht gelöst. Mit dem Material hat Elina die Rechnung 11+ 23 gelegt. Das Ergebnis ist richtig zusammengelegt. Aber die Lösung steht nicht im Heft…
Was ist da los?
Warum hilft das Material Elina nicht, obwohl sie es richtig nutzt?
Das fehlende Puzzleteil
Situationen wie die mit Elina erlebe ich besonders häufig bei Kindern mit Dyskalkulie. Vielleicht hast du das auch schon selbst erlebt:
Wir arbeiten mit ganz viel Anschauungsmaterial und lösen Aufgaben immer und immer wieder handelnd. Das Kind versteht das Prinzip, doch sobald es alleine im Heft arbeiten soll, stößt es wieder an dieselben Grenzen.
Aber warum ist das so?
Handelndes Rechnen ist doch so wichtig und richtig (de Vries, 2018) – das haben wir alle so gelernt, oder?
Ja, du machst alles richtig!
Dir fehlt nur noch ein kleines Puzzleteil um deine Schüler*innen trotz Rechenschwäche erfolgreich zu fördern.
Die Antwort darauf liegt in einem Phänomen, welches leider viel zu häufig übersehen wird – ein Phänomen, welches wir jedoch bei Kindern mit Rechenstörungen sehr häufig beobachten (Rottmann & Schipper, 2002):
Intermodalitätsprobleme
Puh – ein ganz schön großes Wort. Keine Sorge, es ist nicht so kompliziert wie es klingt, und wahrscheinlich bist du mit den Grundlagen schon vertraut.
Ich werde dir in diesem Artikel den theoretischen Hintergrund zu dieser wichtigen Thematik zusammenfassen. Am Ende dieses Artikels wirst du genau verstehen:
- was es mit den drei Modalitäten von mathematischen Darstellungen auf sich hat,
- warum Anschauungsmaterial Kindern mit Dyskalkulie manchmal einfach nicht zu helfen scheint und
- wie du daraus die richtige Förderung für das betroffene Kind entwickelst.
Die drei Modalitäten von mathematischen Darstellungen
Mathematische Sachverhalte lassen sich in drei verschiedenen Modalitäten darstellen: Enaktiv, ikonisch und symbolisch. Wir sprechen dabei auch von Repräsentationsmodi. Idealerweise wird im Mathematikunterricht jede dieser Modalitäten gleichermaßen verwendet und bearbeitet.
Dieses didaktische Prinzip der drei Repräsentationsmodi ist auch als EIS-Prinzip (E – enaktiv; I – ikonisch; S – symbolisch) bekannt und wahrscheinlich hast du davon auch schon gehört. Die meisten Lehrpersonen, die ich aus der Praxis kenne, achten darauf diese Ebenen in ihrem Unterricht zu berücksichtigen.
Enaktiv – Mathematisches Handeln mit Material
Die enaktive Modalität bezeichnet das handelnde Erfassen mathematischer Inhalte. Dabei setzen Kinder ihre Hände ein, um mit konkretem Material Mengen zu legen, zu strukturieren oder zu verändern: Learning by Doing!
Bleiben wir bei unserem Beispiel: Elina verwendet das Dienes-Material, um die Aufgabe 11 + 23 zu legen. Sie nimmt ein Zehnerstäbchen und einen Einerwürfel (11), dann zwei Zehnerstäbchen und drei Einerwürfel (23) und legt alles zusammen – sichtbar liegt die Zahl 34 vor ihr.
Materialien wie das Dienes-Material, Abaco, Muggelsteine oder Finger zählen zur enaktiven Ebene – vorausgesetzt, das Kind handelt aktiv damit.
Ikonisch – Visuelle Vorstellungen und Bilder
Auf der ikonischen Ebene stellen wir mathematische Sachverhalte bildlich dar. Hier arbeitet das Kind nicht mehr handelnd, sondern verarbeitet visuelle Reize.
Ein Beispiel ist ein Abbild des Dienes-Materials im Heft oder ein 20er-Feld mit eingezeichneten Plättchen. Auch schematische Darstellungen auf Arbeitsblättern – z. B. Würfelbilder, Punktefelder oder die farbliche Darstellung der Stellenwerte – zählen hierzu.
In Elinas Fall war im Heft die Aufgabe mit gezeichneten Stäbchen und Würfeln abgebildet – sie musste das Bild interpretieren, aber nicht mehr selbst handeln.
Symbolisch – Rechnen mit Zeichen
Die symbolische Modalität ist die abstrakteste Form der Darstellung. Hier werden mathematische Inhalte ausschließlich mit Ziffern, Zeichen und Formeln dargestellt.
In unserem Beispiel mit Elina war die Rechnung neben der ikonischen Darstellung des Dienes-Materials auch symbolisch dargestellt: 11 + 23 = ___.
Intermodalitätsprobleme – Der Stolperstein für Kinder mit Dyskalkulie
Elina hat die Aufgabe korrekt gelegt – das zeigt: Sie hat das Prinzip auf enaktiver Ebene verstanden. Auch die ikonische Darstellung im Heft war gab ihr eine Hilfestellung. Die Rechnung war zusätzlich dann noch symbolisch dargestellt.
Sie musste auf dieser Ebene nur noch das Ergebnis eintragen, welches sie bereits auf enaktiver und ikonischer Ebene bearbeitet hatte.
Alle drei Ebenen wurden abgedeckt – und trotzdem kam es zu keinem Transfer. Warum?
Hier zeigt sich das eigentliche Problem – eines, das bei Kindern mit Dyskalkulie besonders häufig auftritt:
Der Wechsel zwischen den Modalitäten gelingt nicht.
Dieses Phänomen nennen wir Intermodalitätsprobleme.
Für uns als geübte Rechner ist der Zusammenhang zwischen der Handlung und dem Bild im Heft völlig selbstverständlich. Auch die Verbindung zwischen dem Bild und der symbolischen Rechnung versteht sich von selbst. Ein Großteil der Klasse wird den Transfer ebenfalls mit Leichtigkeit oder etwas Übung meistern und schnell automatisieren.
Bei einigen Kindern ist das jedoch nicht so:
Für Kinder mit Rechenstörungen sind die unterschiedlichen Modalitäten isolierte Fertigkeiten.
Es ist möglich, dass sie sich auf einer Modalität bereits einigermaßen sicher bewegen und einzelne Rechenformate damit gut meistern. Sobald sie dasselbe Rechenformat aber auf einer anderen Ebene bearbeiten sollen, hat man das Gefühl, sie würden mit der Thematik von ganz vorne anfangen.
Förderung – So habe ich Elina geholfen
Die Situation mit Elina ist ganz typisch für Kinder mit Rechenschwierigkeiten. In der Klasse von Elina gab es noch ein paar weitere Kinder, welche ähnliche Probleme hatten, allerdings nicht so ausgeprägt wie Elina.
Deswegen habe ich die Förderübungen zunächst mit Elina im Einzelsetting erarbeitet. Anschließend haben wir in der kleinen Fördergruppe die Übungen als Partnerarbeit durchgeführt. Dabei durfte Elina die Rolle des “Helferkindes” einnehmen, da sie die Übungen schon kannte.
Hier sind die Übungen die wir gemacht haben:
Übung 1: §Das Bilderrätsel“ – Ikonisch zu enaktiv
Ich lege drei kleine Kärtchen vor Elina auf den Tisch. Darauf sind dieselben Abbildungen vom Dienes-Material zu sehen wie im Heft – Zahlen aus Zehnerstäbchen und Einerwürfeln, die eine Rechnung veranschaulichen.
„Ich lege gleich eine dieser Aufgaben mit echtem Material“, sage ich, „und du musst herausfinden, welche das ist.“
Ich nehme die Materialbox zu mir und beginne eine Rechnung zu legen: ein Zehnerstäbchen, ein Einerwürfel – ein Zehnerstäbchen, noch eins, dann drei Einerwürfel. Elina beobachtet konzentriert. Dann greift sie zu einem der Kärtchen, hält es neben das gelegte Material – Treffer!

Nach fünf richtig erkannten Kärtchen drehen wir den Spieß um: Jetzt darf sie das Material legen, und ich muss raten.
Dieser Rollentausch war Gold wert – Elina ging in der Rolle als Aufgabengeberin richtig auf. So nutzte sie das Material zur Abwechslung einmal nicht, um eine (zu schwierige) Aufgabe zu lösen, sondern um eine Aufgabe zu stellen! Ganz nebenbei trainierte sie, Bilder zu „verlebendigen“ und Handlungen bildlich zu erkennen. Der Transfer zwischen der ikonischen und enaktiven Modalität wurde hier also in beide Richtungen trainiert.
Nota bene: Wir haben für diese Übung die Ergebnisse der Rechnungen ganz außen vor gelassen. Das reduziert Komplexität, sodass sich Elina ganz auf die Transferleistung konzentrieren konnte ohne dabei Kapazität für die Operation selbst zu verbrauchen.
Übung 2: §(Zer)lege die Gleichung“ – Symbolisch zu enaktiv
Ich schreibe die Rechnung aus dem Heft groß auf einen Streifen Papier:
11 + 23 =
“Schneide mal die erste Zahl ab und lege sie auf den Tisch”, sage ich.
Elina nimmt die Schere und trennt die 11 ab. Etwas schief und ausgefranst, aber das macht nichts. Sie greift zielsicher zum Dienes-Material und legt ein Zehnerstäbchen und einen Einerwürfel darüber.
“Und jetzt diese Zahl”, ich zeige auf die 23: “Wie sieht die aus?”
Wieder wird geschnitten und gelegt und schon liegt die ganze Aufgabe sowohl als echte Menge, als auch symbolisch mit Ziffern vor uns.

Ich nehme das Pluszeichen und lege es zwischen das gelegte Material: “Was passiert jetzt mit diesen beiden Mengen, wenn ich hier ein Pluszeichen dazwischen lege?”
Elina zeigt auf die beiden Mengen: “Wir tun die zusammen!”, sagt sie und legt die Zehnerstäbe und Einerwürfel zueinander.
“Genau!”, lache ich und nicke ihr ermunternd zu.
Wir legen alles zusammen – und plötzlich ergibt das Gleichheitszeichen Sinn: Es ist nicht nur ein Symbol, sondern ein Handlungsimpuls.
Übung 3: §Die Rechnungsdetektivin“ – Verknüpfung aller drei Ebenen
Sobald Elina bei der Übung 2 souverän und selbstständig arbeiten kann, erweitere ich die Übung.
Ich deute auf das Material mit der Rechnung, die Elina gerade gelegt hat: “Merke dir die Rechnung hier ganz genau”.
Elina kneift die Augen konzentriert zusammen. Dann nickt sie mir zu: Sie ist bereit. Ich verdecke das Material mit einem Seidentuch und schlage das Arbeitsheft auf.
“Weißt du noch, welche Rechnung wir eben gelegt haben?”
Sie fährt mit dem Finger über die Zeichnungen und Rechenaufgaben im Heft. Plötzlich blitzt es in ihren Augen auf. Ich kenne dieses Blitzen und bin ganz gespannt.
“Die war’s!”, sagt sie und strahlt mich an. Sie weiß schon, dass es richtig ist und braucht von mir gar keine Bestätigung mehr.
Sie greift zum Stift und trägt das Ergebnis ins Heft ein.
Was ist hier passiert?
Elina hat die Handlung (enaktiv) in ein Bild übertragen (ikonisch), welches wir unter dem Tuch versteckt haben. Dieses Bild konnte sie im Heft wiedererkennen und mit der Gleichung (symbolisch) in Beziehung setzen – und plötzlich fügte sich alles zusammen.
Fazit – mit diesem Fokus verbesserst du sofort deine Didaktik
Du hättest nicht bis hierhin gelesen, wenn du keine reflektierte Lehrkraft wärst, die ihren Unterricht kontinuierlich verbessert und die Kinder in jeder Situation wahrnehmen und weiterbringen möchtest. Darum bin ich mir auch ganz sicher, dass EIS-Prinzip schon mindestens stellenweise erfolgreich einsetzt.
Wir haben also gesehen, dass diese gute Didaktik bei Kindern mit Dyskalkulie noch nicht immer ausreicht, um nachhaltig ein Verständnis für basale Konzepte aufzubauen. Es fehlt aber nur dieses eine Puzzleteil.
Achte nicht nur darauf, dass die verschiedenen Modi in deinem Unterricht Platz finden. Denke auch darüber nach, wie die Kinder es schaffen können, diese miteinander zu verknüpfen.
Alleine durch diesen Fokus wirst du bemerken, dass sich deine Didaktik in kurzer Zeit massiv verbessert und du weniger Kinder mit anhaltenden Verständnisproblemen in deiner Klasse hast.
Jetzt bist du dran!
Ein paar Beispiele habe ich dir in den Förderübungen gegeben. Mit ein klein wenig Übung entwickelst du aber schon nach ein paar Mathelektionen deine eigenen Übungen, die deiner Lerngruppe besonders Spaß machen.
Für die Vorbereitung:
- Finde heraus, welche Repräsentationsmodi du für die nächste Mathestunde eingeplant hast (es ist okay, wenn es nicht alle drei sind! Du kannst fehlende Modi später wieder verstärkt fokussieren).
- Überlege, wie du die Verknüpfung der beiden Modi mit einer kleinen, spielerischen Übung noch gezielter unterstützen kannst.
Ab in die Praxis – so kannst du deinen Einstieg gestalten:
Es ist völlig in Ordnung, wenn dir gerade auf Anhieb keine maßgeschneiderten Übungen für deine Lerngruppe einfallen. Das braucht ein bisschen Übung, die du in ein paar Wochen haben wirst!
Fang doch einfach mit diesem einfachen Stundeneinstieg an:
- Nimm die Seite im Heft oder im Buch, die deine Schüler*innen während der Stunde bearbeiten sollen.
- In der Kreissequenz bittest du ein Kind sich eine Aufgabe davon zu merken, ohne den anderen Kindern zu verraten welche (alternativ kannst du dem Kind eine Aufgabe vorgeben, welche dem Leistungsniveau des Kindes entspricht).
- Bitte das Kind nun, die Aufgabe mit dem bereitgestellten Material darzustellen.
- Die Kinder im Kreis sollen nun raten, welche Aufgabe gelegt wurde.
- Wenn du möchtest, kannst du daraus eine Gruppenaufgabe bauen:
Die Kinder wiederholen die Übung in Vierergruppen. Sie können außerdem Punkte sammeln: Das Kind, welches die richtige Aufgabe am schnellsten findet erhält einen Punkt, und wird in der nächsten Runde eine Aufgabe für die anderen Kinder der Gruppe legen.
Mit diesem Einstieg werden die Kinder perfekt auf die Aufgabenformate im Heft vorbereitet. Sie werden mit einem vertieften Verständnis für die Aufgaben in die Arbeitsphase starten.
Viel Spaß beim Ausprobieren!
Lass uns sammeln!
Welche Übungen nutzt du, um den Transfer zwischen den Modalitäten zu fördern? Schreib es gern in die Kommentare – vielleicht schaffen wir zusammen eine kleine Ideensammlung für die Praxis!
Du kannst diese Struktur nutzen um deine Übung(en) in den Kommentaren zu teilen:
📌 Name der Übung:
🔄 Was wird geübt?
🧠Warum funktioniert das gut bei euch?
Quellenverzeichnis
De Vries, C. (2018). Mathematik im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung: Grundlagen und Übungsvorschläge für Diagnostik und Förderung im Rahmen eines erweiterten Mathematikverständnisses. (4. Aufl.). Modernes Lernen Dortmund.
Rottmann, T./Schipper, W. (2002): Das Hunderter-Feld – Hilfe oder Hindernis beim Rechnen im Zahlenraum bis 100? In: Journal für Mathematik- Didaktik, 23, Heft 1, S. 51 – 74
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